Von NSU-Watch

Beim Prozess zum Brandanschlag von Solingen vom 25. März 2024 steht seit dem 15. Verhandlungstag am 2. Juni im Raum, dass der Angeklagte möglicherweise eine weitere Brandstiftung an einem Mehrfamilienhaus im Wupptertal im Januar 2022 begangen haben könnte. Die Nebenklage-Vertreterin Seda Başay-Yıldız brachte im Prozess ein, dass die Freundin des Angeklagten zuvor dort gewohnt habe. Der Angeklagte sei dort mit einem marokkanischen Nachbarn in Streit geraten. Vier Monate nach dem Umzug der Lebensgefährtin brannte das Haus. Der Angeklagte soll noch in der gleichen Nacht nach dem Brand gegoogelt haben.

Die Nebenkläger*innen, Überlebende des Anschlages und Angehörige fordern an den Prozesstagen mit einer Mahnwache vor dem Gericht, dass sich das Verfahren endlich den weiterhin offenen Fragen nach dem Motiv hinter dem Brandanschlag von Solingen 2024 widmet. Dieser Druck ist notwendig.

Seda Başay-Yıldız, die als Anwältin der Nebenklage vor dem zuständigen Schwurgericht in Wuppertal eine überlebende Familie vertritt, wird zugleich nicht müde zu betonen: Verhandelt wird über die Schuld und die Tatmotive zum Mord an vier Menschen. Es geht um Kancho Zhilov und Katya Zhilova, um ihre Kinder Emily und Galia. Sie starben am 25. März 2024 in ihrer Wohnung im obersten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses in Solingen-Grünewald. 21 Menschen überlebten den Brandanschlag, einige davon schwer verletzt, etwa weil sie sich durch den Sprung aus einem Fenster retten mussten.

Nach vier Monaten, die der Prozess nun bereits dauert, kommen allerdings mehr und mehr Aspekte ans Licht, die den Eindruck nähren, dass die Ermittlungsbehörden ein rechtes Tatmotiv schon während der Ermittlungen nicht erkennen wollten und bis heute weiterhin nicht erkennen wollen. Im April 2024 wurde der heute angeklagte Daniel S. festgenommen. Er gab und gibt an, den Brand aus Rache gegen seine ehemalige Vermieterin gelegt zu haben. Bis 2022 hatte er in dem Mehrfamilienhaus in der Grünewalder Straße gewohnt und sei mit der Hausbesitzerin in Streit geraten. Nur zwei Tage nach der Festnahme und unmittelbar nach der Durchsuchung von Gebäude und Garage, die der Angeklagte zum Zeitpunkt seiner Festnahme nutzte, hatte der ermittelnde Staatsanwalt Heribert Kaune-Gebhardt am 10. April 2024 der Presse mitgeteilt: Die bislang durchgeführten Ermittlungen, insbesondere die Durchsuchung der Wohnräume des geständigen Tatverdächtigen sowie die Auswertung von Beweismitteln hätten „keine Erkenntnisse auf ein Tatmotiv, auch nicht auf ein etwaig vorhandenes fremdenfeindliches Motiv“ ergeben.

Wie wir seit dem 12. Verhandlungstag allerdings wissen, war und ist diese Einschätzung kaum haltbar. Denn in einer Mansarde des Hauses, die auch der Angeklagte bis zu seiner Verhaftung genutzt haben kann, waren u.a. zeitgenössische NS-Proganda sowie Wehrmachts- und Soldatenverherrlichungen gefunden worden. In der Garage des Angeklagten hing – auf Spurensicherungsbildern sichtbar – ein Poster mit eindeutig rassistischer Botschaft, die auch in den 1990er Jahren bereits bekannt war. Datenträger und das Google-Konto, die mutmaßlich dem Täter zuzuordnen sind, waren voller NS-verherrlichender Memes, unverholenem Rassismus und Antisemitismus.

All diese Funde waren allerdings nicht zu den Gerichtsakten gereicht worden. Seda Başay-Yıldız musste erst selbst recherchieren, Fotos sichten, Anträge zur Auswertung der bis dahin unbeachteten Datenträger stellen. Erst jetzt, während der Hauptverhandlung, hat die Hartnäckigkeit der Nebenklage dafür gesorgt, dass diese Beweismittel überhaupt vor Gericht gewürdigt werden. Am nun 15. Prozesstag, am 2. Juni, ging es etwa um die Festplatte, auf der mindestens 166 rassistische und extrem rechte Bilder und Memes gefunden wurden. Die Datenanalyse der Ermittler*innen will jetzt festgestellt haben, dass die Dateien zwar von einem Nutzer namens Raphael L. stammen könnten und wohl als Kopien von Smartphone-Daten auf die Festplatte gelangt seien. Doch die Rolle dieses Bekannten aus dem Umfeld der Freundin des Angeklagten bleibt auch nach seiner Zeugenaussage am Landgericht unklar. Dass die rassistischen, antisemitischen und neonazistischen Memes nicht vom Angeklagten sein sollen, kann weiterhin nicht als erwiesen betrachtet werden.

Beim Verhandlungstermin am 12. Mai 2025 überraschte der Vorsitzende Richter Jochen Kötter zuletzt noch durch die Einführung eines weiteren Dokuments. So habe es bereits im April 2024 eine Einschätzung der Kriminalpolizei gegeben, wonach dem damals Tatverdächtigen ein geschlossen extrem rechtes Weltbild durchaus zu eigen gewesen sei. Ein extrem rechter Hintergrund der Tat wurde als Ermittlungsansatz festgehalten. Allerdings: Das Schriftstück, das diesen Ermittlungsstrang festhielt, wurde handschriftlich kommentiert und verändert, die Einschätzung zur rechten Gesinnung des Angeklagten darin gestrichen. Auf wessen Anordnung? Durch wessen Hand? Die Wuppertaler Staatsanwaltschaft äußerte sich vor Gericht dazu nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie allerdings ihre Erklärung für diese erstaunliche Kehrtwende bereits an anderer Stelle präsentiert: Als Bericht an das Ministerium der Justiz, das sie seinerseits dem Innenausschuss im Düsseldorfer Landtag vortrug.

Dort hatte die SPD-Fraktion Anfang Mai einen Bericht über die Erkenntnisse zur Motivlage des Anschlages eingefordert. Der leitende Oberstaatsanwalt hatte bereits am 7. Mai sein Ministerium informiert, Innenminister Herber Reul (CDU) kopierte den Beitrag in seinen Bericht und legte ihn dem Ausschuss vor.

Darin heißt es unter anderem: Die ursprüngliche Einschätzung zur Person und Motivlage des Täters sei noch im April 2024 nur deshalb entstanden, weil sich eine nicht-sachkundige Regierungsbeschäftigte, die „nur oberflächlich mit dem Sachverhalt“ vertraut gewesen sei, einen Reim auf die Hintergründe des Brandanschlags zu machen versucht und politische Motive angenommen habe. Die dann aber zuständige und fachlich ausgebildete Staatsschutzbeamtin habe das Dokument danach korrigiertIn die Akte gelangt wiederum sei die Notiz mit dem korrigierten Vermerk der Kollegin dann jedoch nicht. Die Staatsschutzbeamtin habe sie ausgedruckt und zu einer Besprechung mit der Mordkommission mitgenommen. Dort sei das Papier dann verlorengegangen, so der Oberstaatsanwalt gegenüber dem Innenausschuss.

Solche und weitere mehr als fragwürdige Erklärungsversuche zu den sich häufenden Ungereimtheiten und Arbeitsverweigerungen in der Ermittlungsarbeit gibt es viele. Erstaunlich ist, dass die Staatsanwaltschaft als Herrin des Verfahrens zugleich keine Spur von Erstaunen oder Ärger zeigt darüber, dass die Art der Ermittlungsführung die Aufklärungsarbeit der Anklagebehörde und damit ihre Autorität beschneidet und einschränkt. Stattdessen ging die Staatsanwaltschaft am 14. Verhandlungstag die Vertreter*innen der Nebenklage mit dem Vorwurf an, ihr Versuch, das Tatmotiv aufzuklären und den mehr als augenscheinlichen Hinweisen auf Rassismus als Motiv nachzugehen, sei „Meinung.“

Inzwischen sind Seda Başay-Yıldız und vier weitere Nebenklagevertreter*innen erstmals gemeinsam an die Öffentlichkeit getreten. Sie weisen auf die „Salamitaktik“ der Ermittlungsbehörden hin, die dem Vertrauen in deren Aufklärungswillen rechtspolitisch schwer zu schaden drohe. Die Anwält*innen fordern in aller Deutlichkeit die Staatsanwaltschaft und die Polizei auf, dem Schwurgericht und den Verfahrensbeteiligten alle Ermittlungsunterlagen zur Akte zu reichen –vollständig und unverzüglich.

Heute bekommt der Prozess ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit. Auch die jüngsten, wiederum überraschenden Erkenntnisse zu einer weiteren, potentiell tödlichen Brandstiftung, die der Angeklagte schon im Januar 2022 gegen einen marokkanischen Nachbarn seiner Freundin ausgeführt haben könnte, mögen dafür sorgen, dass Rassismus als Tatmotiv breiter diskutiert wird.

Es gibt eine solidarische Prozessbeobachtung, solidarische Menschen begleiten die Überlebenden und Angehörigen in ihrem Anliegen bei Mahnwachen. Auch überregionale Medien berichten fortlaufend und wahrnehmbar. Diese Aufmerksamkeit wird notwendig sein, um den Druck aufrecht zu erhalten. Die zu lange nicht gestellte Frage nach dem Tatmotiv Rassismus und nach einem extrem rechten Hintergrund des Angeklagten soll nicht wieder unter den Teppich gekehrt werden können. Der Prozess ist aktuell bis in den Spätsommer hinein terminiert.

Bitte achtet auf Ankündigungen und kommt zur kritischen Prozessbeobachtung nach Wuppertal, im Juni am 11.06. und 23.06.2025. Infos und Neuigkeiten bei Adalet Solingen und Herkesin Meydanı.